Oslo. Wer auf die Insel kommt, dem wird gleich frisch ums Herz. Kräftig blau schwappt das Wasser vor dem Ufer herum. Am hohen Himmel verschiebt der Wind stapelweise Wolken, manche grellweiß, manche düstergrau. Immer wieder schüttet die Sonne mächtig Licht ins Bild, dann will man dem ganzen Naturtheater am liebsten entgegenspringen. Platz wäre da, sogar ein Sprungbrett. Aber Baden im Oslo-Fjord, das wäre jetzt doch etwas zu frisch. Auch wenn sich gerade wieder drei nordische Jungs unter Gejohle (vorher) und Gejapse (nachher) mutig hineingestürzt haben.
Im Grunde ist schon Tjuvholmen ein Sprung in den Fjord. Dort, wo Oslos jüngster und kleinster Stadtteil liegt, war bis vor zehn Jahren nichts als Wasser. Dann wurden Pfeiler in den Grund der Bucht gerammt, Venedig-style, und obenauf ein paar Dutzend glänzende Gebäude gesetzt. Irgendwo unter den eigenen Füßen, zwischen den versenkten Säulen aus Stahlbeton, wächst nun ein künstliches Riff heran. Obendrüber, auf dem Pflaster, hat man währenddessen das seltsame Gefühl, weit draußen zu sein und doch mittendrin im neuesten, schillerndsten Oslo. In einem Miniquartier voller Luxusapartments mit spiegelnden Glasfronten und hervorspringenden Balkonen — und zugleich voller Kunst, durch den großen Köder des Viertels, das Astrup Fearnley Museum mitsamt seinem Skulpturenpark.
Am schönsten schillert Tjuvholmens einziges Hotel The Thief. Es ist nach dem Gesindel benannt, das sich hier einmal herumgetrieben haben soll. Niemand weiß zwar nichts Genaues, aber der Name Tjuvholmen, „Diebesfelsen“, hält sich für diese Ecke der Bucht nun schon seit Jahrhunderten. The Thief macht einen smarten Brückenschlag daraus: internationaler Name, lokal angebunden. Und treibt das Diebesspiel dann in der Lobby noch einen Schritt weiter. Dort hängt The Horse Thief, eine drei Meter hohe Fotoarbeit, auf der ein Lasso schwingender Cowboy ein wild gewordenes Pferd einzufangen versucht. Das Motiv stammt aus Marlboro Country. Der berühmte USKünstler Richard Prince hat es der Werbung entnommen und unter eigenem Namen reproduziert. Die appropriation art gilt als sehr geachtete Form des »Diebstahls« im Kunstbetrieb.
The Horse Thief ist zu einer Art Markenzeichen des Hauses geworden. Der Wilde Westen wirkt zwar im sauberen Norden etwas seltsam, aber, hey, das Bild wirbelt ordentlich rauen Glamour auf. Jedes Mal schön, es zu sehen. Seinen stolzen Platz in der Lobby — mit Schaufenster zur Straße — verdankt es einem nachbarschaftlichen Deal: dem zwischen The Thief und dem Astrup Fearnley Museum, das gleich um die Ecke liegt. Hotelbesitzer Petter Stordalen, ein skandinavischer Big Player und Kunstsamm1er, ist Sponsor des Museums, das Museum leiht ihm dafür ein paar Werke aus der beeindruckenden Sammlung — eine Tweety-Skulptur von Jeff Koons etwa, einen bunt lackierten Totem-Adler von Niki de Saint-Phalle, ein grelles Schlierengemälde von Damien Hirst. Und wer als Hotelgast sein Zimmerkärtchen zum Museum trägt, hat dort automatisch freien Eintritt.
Aber ist man erst mal drin im Thief, will man so schnell nicht wieder raus. Das Hotel umkuschelt einen geradezu mit Polstern, Sofas, Sesseln in dunkel schimmernden Tönen von Anthrazit über Braun und Rostrot bis zu Bronze. Säulen sind mit kupferfarbenen Perlenschnüren verkleidet, in den Fluren werfen Lampencluster honigfarbenes Licht. Und aufdem Bett im Zimmer lagern schwarz-goldene Kissen unter einem schwarz-goldenen Wandrelief. Womöglich schwebte der Innenarchitektin Anemone Wille Våge eine luxuriös ausgeschlagene Räuberhöhle vor. Passend zum Namen des Hotels. Passend auch zur labyrinthischen Radierung an der Wand: Shelter heißt sie, Rückzugsort, und The Thief hat davon eine Menge. Hier könnte man das ganze Jahr hindurch überwintern.
Toller Effekt, wenn man dann im Zimmer die Vorhänge beiseiteschiebt, den Sessel umdreht zur Fensterfront und aus der warmen Höhle hinausschaut Richtung Fjord: wieder ‚Volkentürme im stählernen Himmel, schwappendes Wasser, am jenseitigen Ufer ein Kreuzfahrtschiff unterhalb der Festung Akershus. Unbedingt skandinavisch, das Panorama, betrachtet allerdings aus einem Nest der Gemütlichkeit. Als Katze würde man jetzt schnurren.
Ein Video von Thief-Touristen.
Am Tag darauf beim Abendessen im Fru K, dem besseren der beiden Hotelrestaurants, noch so ein wohliger Schauer. Die Gerichte schmecken nach Erde, nach Algen, nach Salzwasser und Räucherkate, aber der junge Chef-Johan Laursen umtupft alles Nordisch-Herbe seiner Küche mit zarten Cremes und Soßen und macht es dadurch extra einschmeichelnd. Die Teller werden angemessen angestrahlt, ansonsten ist alles abgedimmt, bis auf den Leuchtkasten in der Ecke, eine Arbeit in Mondrian-Farben von Joseph Kosuth. Der Kunst entkommt man nirgendwo, ein Kurator hat großzügig Werke aus der Sammlung des Hotelbesitzers übers Haus verteilt.
Ein später Drink in der Bar, natürlich auch ein Schattenreich dunkler Stoffe, von der bernsteinfarben glimmenden Theke stärker erhellt als von irgendeinem Lämpchen. Die meisten spätabendlichen Gäste tragen noch die Business-Klamotten vom Tage. Spektakulärer sind die hauseigenen Cocktails kostümiert, die in fernöstlichen Lackkästchen, in hohlen Ästen und auf Spinnenbeinen aus Metall serviert werden. Eine amerikanische Touristin zückt sofort ihr Smart-Phone, um ein Foto von ihrem attraktiven alkoholischen Begleiter zu machen.
Und was hängt da ganz hinten an der Wand? Eine düstere Fotoserie von Überraschung — Ihrer Hoheit, Königin Sonja von Norwegen. Die Königin ist landesweit bekannt für ihre Naturfotografie. Die Bilder in der Bar sind verfremdete Detailaufnahmen, bei Höhlengängen entstanden. Nirgendwo sind sie besser aufgehoben als hier, mitten im Fuchsbau des Thief.