Lagos. Die Müllsammelstelle der Firma WeCyclers in Lagos quillt über von Plastikabfall. Leere Pepsi-, Fanta-, Cola- und Wasserflaschen, zwischen einem halben Liter klein und zwei Litern groß, stapeln sich auf dem Betonfußboden. Mittendrin, wie Kinder in einem Bällebad, sitzen Frauen. Sie kratzen die Etiketten von den Flaschen ab und packen sie dann in große Säcke. »Die Flaschen müssen sauber sein, wenn wir sie zum Schreddern abliefern«, sagt Bilikiss Adebiyi-Abiola, »erst dann bekommen wir 90 Naira pro Kilo Plastik.« Das sind umgerechnet etwa 45 Cent.
Es wirkt auf den ersten Blick nicht so — aber die 34-jährige Nigerianerin, die in Lagos die Müllverwertung organisiert, hat eine glänzende Karriere hinter sich. Sie hat am angesehenen Massachusetts Institute of Technology in den Vereinigten Staaten studiert, dort einen MBA gemacht und konnte sich anschließend die Jobs aussuchen. Dennoch entschied sie sich, nach Nigeria zurückzukehren. »Es ist die richtige Zeit, um heimzukommen. Hier gibt es so viele Möglichkeiten, um gutes Geld zu verdienen und gleichzeitig das Land voranzubringen«, sagt sie. Das Land brauche junge Menschen wie sie. »Wir haben eine gute Ausbildung, kennen die Welt und sind nicht so korrupt wie die Alten.«
Adebiyi-Abiola hat etwas aufgebaut. Ihr Unternehmen WeCyclers kauft den Slumbewohnern von Lagos den Plastikmüll und außerdem Pappe, Aludosen und Glas ab. Den Müll von 10 000 Familien sammeln Mitarbeiter der Firma per Fahrrad oder Motorradrikscha ein. WeCyclers zählt bereits mehr als 100 Angestellte. »Wir schaffen etwa 50 Tonnen Plastik im Monat«, sagt die Chefin stolz.
»Wir arbeiten wie Headhunter«, erklärt Agenturchefin Angel Jones.
Der Gouverneur von Lagos hat den Abfallhof von WeCyclers vor Kurzem besucht und Adebiyi-Abiola in den Aufsichtsrat seines Employment Trust Fund berufen. Dort soll sie ihr Wissen und ihre Erfahrung weitergeben. Der Fonds ist mit umgerechnet vier Millionen Dollar ausgestattet und soll die Gründung kleiner Unternehmen fördern. Schließlich weiß die aus den USA zurückgekehrte Gründerin, wie man ein gutes Geschäft erkennt.
Nicht nur für Nigeria, auch für andere afrikanische Länder deutet sich ein Wandel an. Jahrzehntelang litt Afrika unter dem sogenannten Brain-Drain — der Auswanderung von einheimischen Fachkräften. Jeder dritte afrikanische Student in den USA oder Großbritannien kehrte nach seinem Abschluss nicht nach Hause zurück. Das Ergebnis: Jeder neunte Afrikaner mit höherer Bildung lebt heute in den Industrieländern. Besonders dramatisch ist die Abwanderung in Simbabwe, das von dem autoritären Regime Robert Mugabes heruntergewirtschaftet wird: Mehr als 70 Prozent aller Hochschulabsolven- ten arbeiten heute im Ausland, darunter neun von zehn Ärzten. Der Brain-Drain kostet die Länder ein Vermögen. »Afrika gibt jährlich 3,7 Milliarden Dollar für die Ausbildung von Fachleuten aus, die dann das Land verlassen«, sagt Thabo Mbeki, der ehemalige Präsident von Südafrika. »Dazu kommen noch mal viele Milliarden Dollar, die wir pro Jahr als Gehälter an die 150 000 Ausländer zahlen müssen, weil es an lokalen Fachkräften mangelt.«
Doch langsam dreht sich der Trend um. Seit der Jahrtausendwende erlebt Afrika einen bisher ungekannten Boom. Die ökonomische Leistungskraft von Ländern wie Äthiopien, Ruanda, Ghana, Angola oder Nigeria wuchs im Durchschnitt der vergangenen 15 Jahre mit mehr als fünf Prozent pro Jahr. Die Demokratie ist auf dem Vormarsch, auch wenn sie nicht überall westliche Standards erfüllt. Die Regierungsführung hat sich verbessert. Auch die Zahl der bewaffneten Konflikte ging zurück.
Von der afrikanischen Diaspora wird diese Entwicklung genau verfolgt. Denn wie die RecyclingUnternehmerin Adebiyi-Abiola vermissen auch andere ihre Heimat. Umfragen unter im Ausland lebenden Afrikanern haben ergeben, dass etwas mehr als die Hälfte von ihnen in ihre Heimatländer zu- rückkehren würden, wenn die Bedingungen stimmten. Gemeint ist: die Chance auf eine interessante, anspruchsvolle und gut bezahlte Arbeit.
Die Emigranten machen sich nichts vor, sie wissen, dass Korruption und Klientelismus, hohe Kriminalität und Schlaglöcher auf den Straßen, schlechte Schulen und Krankenhäuser noch immer weit verbreitet sind. Doch zugleich zeigen sich jede Menge unbesetzte ökonomische Nischen — und wenig Konkurrenz. »Das Geschäftsumfeld ist oft etwas rau, aber es gibt so viel kreatives Potenzial in Afrika, das nur darauf wartet, angezapft zu werden«, sagt Samuel Mensah, Gründer der Bekleidungsfirma Kisua. Der Ghanaer ist einer der erfolgreichen Rückkehrer: Lange arbeitete er als Investmentbanker und Finanzanalyst im Ausland, unter anderem in London für die Deutsche Bank. Doch 2013 zog er nach Südafrika, um einen Online-Shop für afrikanische Mode zu gründen. Er nannte ihn Kisua, was in Suaheli »gut angezogen« bedeutet. Inzwischen verkauft Kisua nicht nur Mode, sondern entwirft auch eigene Kollektionen. »Ich habe meinen Schritt noch nie bedauert«, sagt Mensah. Zu seinen Kunden gehören inzwischen Beyoncé, Michelle Obama, Rihanna und Gwen Stefani. Viel Zeit für Gespräche hat er allerdings nicht. »Wir starten gerade eine neue Kollektion«, sagt er entschuldigend. »Da geht es genauso hektisch zu wie auf dem Börsenparkett.« »Afrika kann man nur hassen oder lieben«, sagt der Unternehmer Jason Njoku. »Etwas dazwischen gibt es nicht.« Der in Großbritannien geborene Sohn nigerianischer Emigranten kehrte 2010 nach Lagos zurück und gründete dort iRokoTV, eine StreamingPlattform für nigerianische Filme. Damals hatte niemand in Nigeria eine Ahnung von digitalen Vertriebsstrukturen, Filme wurden immer nur auf DVDs verkauft. »Ich kam mir vor, als wäre ich aus der Zukunft gekommen«, sagt der 36-Jährige. Nach gut sechs Jahren hält iRokoTV mittlerweile die Rechte an mehr als 6000 nigerianischen Filmen und hat den Investoren der ersten Stunde Gewinne von 3000 Prozent auf ihr eingesetztes Kapital beschert.
In mehreren Ländern sind inzwischen Agenturen entstanden, die sich auf Rekrutierung von Diaspora-Afrikanern für Top-Jobs auf dem Kontinent spezialisiert haben. Sie helfen den Rückkehrern, ihr Leben in Afrika neu zu organisieren, vermitteln Häuser und Wohnungen und suchen Schulen für die Kinder. »Wir arbeiten wie eine HeadhunterFirma«, sagt Angel Jones, Chefin und Gründerin von Homecoming Revolution in Johannesburg. »Der einzige Unterschied: Wir suchen unsere Kandidaten ganz gezielt in der afrikanischen Diaspora.« Jones ist eine Pionierin in der Branche — und selbst eine Zurückgekehrte. Ihre Heimat Südafrika hatte sie während der Apartheid verlassen und bei einer Werbeagentur in London gearbeitet. Im Frühjahr 2000 kam sie wieder.
Seither arbeitet Homecoming Revolution daran, den Brain-Drain umzukehren. Jones legte dazu eine Datenbank an, in der sich alle im Ausland lebenden Afrikaner registrieren konnten, die sich eine Rückkehr prinzipiell vorstellen können. Mehr als 40 000 haben sich eingetragen. Jedes Jahr organisiert Jones Konferenzen in London und Johannesburg, wo die Diaspora auf die Wirtschaft trifft. »Wir zeigen den Menschen, welche Möglichkeiten sie in Afrika haben«, sagt sie. »Und die Konzerne können die Qualität der Fachkräfte überprüfen.«
Mehr als 1000 Leute hat sie so nach Afrika zurückgeholt und in neue Jobs vermittelt. Das Geschäft sei in den letzten Jahren einfacher geworden, sagt sie. Viele Afrikaner seien enttäuscht, weil sich der Arbeitsmarkt in den USA und in Europa seit der Finanzkrise doch sehr verschlechtert habe. So erscheine manchem die Rückkehr als beste Lösung. »Jeder gut ausgebildete Professional, der nach Afrika zurückkehrt, schafft acht bis neun neue Arbeitsplätze«, sagt Jones. Ihre Firma sitzt heute in einem modernen Bürokomplex in Melrose, einem der besseren Stadtviertel von Johannesburg.
»Ich liebe den Witz der Leute«, sagt der Filmemacher Obi Emelonye
Das Geschäftsmodell von Homecoming Revolution hat längst Nachahmer gefunden. In London haben Oyin Solebo, eine Investmentbankerin von Goldman Sachs, und Charles Sekwalor, ein Strategie berater von McKinsey, die Agentur Movemeback gegründet. Sie will vor allem Nigerianern die Rückkehr erleichtern. Das Land leidet zwar unter dem niedrigen Ölpreis. Doch Filmindustrie und die Musikbranche erleben einen starken Aufschwung. Viele Künstler mit afrikanischen Wurzeln, die bisher nur schlecht in London oder New York über die Runden kamen, werden in Lagos als Stars gefeiert.
Auch Kenia hat den Rückkehrern einiges zu bieten. In Nairobi sind in den vergangenen Jahren Hunderte Technologie-Start-ups entstanden. »Nairobi ist heute eine kosmopolitische Stadt, mitreißend, spannend, dynamisch, beschwingt«, sagt Farah Samanani. Die Kenianerin mit indischen Wurzeln hat nach ihrem MBA-Studium in Yale für eine Unternehmensberatung in Boston gearbeitet, bevor sie 2007 zurückkam. An der Agha-KhanUniversität in Nairobi arbeitet sie an der Verbesserung des kenianischen Gesundheitswesens. Nebenbei leitet sie seit vier Jahren die Agentur Kenyans Come Home. Deren Firmenmotto: »Sei ein Teil der afrikanischen Wachstumsstory«.
Dass diese auch eine dunkle Seite hat, wissen die Rückkehrer. Sie haben Mut und Energie, sind aber nicht naiv. Denn viele der alten korrupten Politiker sind immer noch an der Macht und plündern die Bürger aus. Die überbordende Bürokratie erstickt viele interessante Projekte und neue Ideen. »Das Leben in Afrika ist ein Dschungel, es gibt viele Gauner, die es auf dein Geld ab gesehen haben«, sagt Obi Emelonye, ein Nigerianer mit britischem Pass, der in London Jura studierte und danach jahrelang als Anwalt praktizierte. »Aber ich träumte immer vom Filmemachen, deswegen kehrte ich nach Nigeria zurück. Ich liebe den Witz der Leute, ihre Kreativität.« Er habe allerdings auch Lehrgeld zahlen müssen, erzählt Emelonye heute, seine ersten Partner hätten ihn ausgenommen »wie die Weihnachtsgans«. Beinah sei er pleitegegangen. Doch inzwischen gehört er zu den anerkanntesten Filmregisseuren und Produzenten Nigerias. Sein Kinofilm Last Flight to Abuja war 2012 unter den Top Ten der größten Kassenschlager des Landes. Und Emelonye weiß: »Das alles hätte ich in London unmöglich erreicht.«